Das Zelt zwischen den Welten
oder
Zu Samhain sind manchmal mehr Tore offen, als einem lieb ist.
Eigentlich, dachte ich und stapfte
zufrieden zum Zelt zurück, hätte keiner den Typen besser
abwimmeln können. Was mit gezücktem Notizblock und
angefeuchtetem Bleistift nebst einiger ausgesuchter Zitate aus
einschlägigen Gesetzen begonnen hatte, war bald in eine
intensive Grundrechtsdiskussion umgeschlagen. Die verbale Kraft Linas
hatte die Stellung des Ordnungshüters auch nicht gerade
gefestigt und schließlich hatte die ausgelöste Alarmanlage
des Dienstwagens einen hervorragenden Vorwand gegeben, sich
zurückziehen zu dürfen. Somit konnte eigentlich nichts mehr
den weiteren Verlauf des Abends stören. Blutrot ging die Sonne
hinter einem der letzten halbwegs erhaltenen Großsteingräber
unter; der weite, sanft gewellte Platz mit zahllosen, flachen
Hügelgräbern war menschenleer bis auf das Häufchen
derer, die sich zu Samhain versammelt hatten. Ein schneller Blick
nach Osten zeigte mir, daß unsere Fahrzeuge gut in Deckung
standen. Unser Zelt hatte sich schon mit Hexen, Heiden und anderen
liebenswerten Spinnern gefüllt. Heute wollte ich also mal dabei
sein, wenn das Ritual gefeiert wurde. So trat ich, ohne auf einige
spitze Bemerkungen einzugehen, selbstverständlich in das Zelt
und sah mich um. Natürlich kannte ich es, hatte es schließlich
mit entworfen, aber es sah anders aus heute abend. Viele der Gäste
hatten ihren Altarschmuck mitgebracht und liebevoll aufgebaut. In
einer der zwölf Ecken lehnte eine zwölfsaitige Gitarre,
daneben ein Banjo nebst großem Kaffeetopf. Das Feuer brannte
schon und Maebh war damit beschäftigt, um uns herum den
Schutzkreis zu ziehen. Gut, daß meine Ohren nicht mehr die
besten waren, so verstand ich ihr leises Gemurmele nicht. Dann war
sie fertig, reihte sich in den Kreis um das Feuer ein. Einen
Augenblick herrschte Stille, dann hob Lina die Stimme.
"Liebe Brüder und Schwestern, wir haben uns hier versammelt, um Samhain zu feiern, das
Fest der Ernte, das Fest zum Ende des Jahres. Ich danke euch, daß
ihr gekommen seid. Ihr habt den Weg hierher geschafft, doch habt ihr
heute noch manchen beschwerlichen Pfad zu wandeln. Mögen die
Götter euch ferner geleiten."
Irgendwie kamen mir die Worte vertraut vor. Emsig kramte ich im Gedächtnis herum, suchte in
meiner gesunden Halbbildung nach dem Quellvermerk und merkte nicht,
daß um mich herum bereits das Methorn seine Runde machte. Nach
einem leichten Rippenstoß tat ich erst einen kritischen Blick
hinein und dann einen kräftigen Schluck daraus. Kommt voll gut
... Die letzte stieß das Horn wieder in den Sand. Tori streute
etwas in das sanft brennende Feuer, und ein würziger Duft trieb
durch das Zelt, wurde vom Wind, der durch eine der vier offenen
Türen wehte, mitgenommen. Ich schloß die Augen, zog den Geruch ein.
Bilder zogen vorbei, nah und doch ungreifbar, von Zimmern in
orientalischen Häusern, von schönen Frauen. Ich klappte die
Augen wieder auf.
"Ich rufe die Geister des Nordens, der Dunkelheit und der Kälte. Kommt zu uns und feiert
das Fest der Ernte."
Unauffällig sah ich mich um. Die
anderen schienen wie ich die Eiseskälte zu spüren, die
plötzlich durch das Zelt zog. Eindeutig kam sie vom
nördlichen Eingang her. Lina trat einen Schritt zurück. Auch ich wich zur
Zeltbahn aus, und schon hatte sich eine Gasse gebildet. Deutlicher
jetzt strömte kalte Luft herein. Jetzt klang von draußen
Marschtritt auf. Au Backe, dachte ich, gleich 'ne ganze
Hundertschaft? Im Eingang erschien, in das einheitliche Weiß
der Plastikpanzer gekleidet, ein Soldat der Sturmtruppen, sicherte
einen Moment und gab ein Zeichen nach hinten.
Alles klar, hier sind sie nicht.
Damit latschte er quer durch das Zelt, durch die von uns gebildete Gasse, vorbei am Feuer und zum
südlichen Ausgang wieder hinaus. Eine ganze Abteilung
Sturmtruppen folgte, die Lasergewehre in Pirschhaltung, in ihrer
Mitte die gefesselte und leicht ramponierte Leya. Das ganze dauerte
nur einen Moment, dann waren sie so schnell fort, wie sie erschienen
waren. Ihnen folgte ein staksiger Roboter in Gold, blieb kurz stehen
und fragte: R2, wo steckst du schon wieder, du mieser, kleiner
Schrotthaufen? Von draußen ertönte ein Pfiff und der
Blechheini verließ mit leisem Quietschen das Zelt. Wie beim
Tennis, bemerkte ich, als unsere Köpfe den unerwartet
Erschienenen durch das Zelt gefolgt waren. Verblüfft senkte Lina
ihre Arme, schüttelte kurz ihren Kopf. Jetzt trat Tiakal vor,
hob wie ihre Vorgängerin die Arme und sprach:
"Ihr Geister des Ostens, der Morgenröte und des Windes, ich rufe euch! Kommt aus den Weiten
der Steppe und feiert mit uns das Fest der Ernte."
Vorsichtshalber ließ sie die
Arme gleich sinken. Ich wartete darauf, wieder Bilder zu sehen,
spürte aber weder den Steppenwind; noch wollte der Schein der
aufgehenden Sonne sich einstellen. Wer hatte denn da bei der
Vorbereitung gepennt? Wenn mann nicht alles selber macht ...
Draußen klang eine zornige Stimme auf und näherte sich dem östlichen
Eingang. Ein Trupp Zwerge trat unbefangen ins Zelt und blieb am Feuer
stehen. Einer von ihnen, in merkwürdig alt aussehende
Ledersachen gekleidet, hob eine Karte in das Licht.
Also, so schwer kann das doch nicht sein. Hier sind wir losgegangen - er stach mit dem Finger
auf die Karte hinunter - und hierher müssen wir. Das
Steingrab ist doch deutlich verzeichnet. Ich meine, wir müssen nach Norden.
Aber nein, wir müssen nach Süden. Du hältst das Ding verkehrt.
Was, ich? Ich hab' schon ganz andere Dinger gemacht. Also halt die Klappe.
Ich finde, er hat Recht ...
Eine Weile stritten die seltsamen Menschen miteinander, bis der Anführer das Ganze mit ein paar
wohlgezielten Hieben seiner zusammengerollten Karte auf einige Köpfe
beendete und sich nach Norden wandte. Glücklicherweise hielt das
Dreibein seinem Anprall stand.
Also, die Gegend hier ist in einem
schlechten Zustand. Kommt, Jungs, Na los, ein bißchen fix! He,
Joe, beweg deinen Arsch! Hier entlang!
Diesmal drehten unsere Köpfe
sich nach Norden, als wir den Abzug der Truppe verfolgten.
Unauffällig kniff ich mich in den Arm - au, kein Traum! Schon
wollte Maebh den nächsten Teil beginnen, als wir uns alle nach
Süden wandten. Diesmal war es allerdings nur ein kleiner Trupp
Römer, der das Zelt als Durchgang benutzte. Ihnen folgte ein
gefesselter Zivilist, der mir eindeutig aus der Osthälfte des
Reiches zu stammen schien. Die Kette war lang genug, daß er ab
und zu stehenbleiben und von einem Bein auf das andere hüpfen
konnte. Dazu sang er wahlweise Jehova, Jehova oder konjugierte
das lateinische Verb ire. Io, is, it, imus, itis, eunt. Der
letzte Legionär zog unsanft an der Kette.
"Ruhe jetzt! Du störst beim
Ritual!"
Hanni war der nicht vorhandene Kragen
geplatzt. Der Römer drehte sich nicht einmal um, sondern zog
seinen Gefangenen hinter sich her aus dem Zelt. Draußen
hörten wir noch einmal Jehova! und ein paar Tritte, dann war es
wieder still. Hanni holte tief Luft.
"Bei den Mächten, wer wagt es, uns zu veralbern? Antwortet!"
Bedeutungsschwer schwebte die Frage
einen Atemzug lang im Raum. Die Antwort blieb allerdings aus. Statt
dessen unternahm Maebh einen zweiten Versuch, wiederum mit den
Geistern des Südens. So war halt mal die Reihenfolge, aber wir
hörten eh nicht mehr zu, sondern sahen gespannt zum
Südeingang. Enttäuscht bemerkten wir, daß diesmal alles klappte. Ich
sah die Sahara vor mir, spürte die trockene Hitze des
Wüstenwindes. Die Sonne stach herab, tauchte alles in blendende
Helle, brachte Wärme. So wandten wir uns wieder dem Feuer zu,
als plötzlich mit einem leisen Bampf ein durchaus
kräftiger, junger Mann nebst einem Zwischending aus Echse und
Ritter erschien; vervollständigt wurden sie durch einen kleinen
Drachen. Verdutzt schauten sie sich um. Der Drache nutzte die
Gelegenheit und verspeiste mit einem Haps den Erntekranz.
Irgendwas ist mit deinem D-Hüpfer
nicht in Ordnung, Aahz. Das ist nicht der Markt von Tauf.
Nein, ein viel zu schlapper Haufen. Warte, das haben wir gleich ...
Er drehte an dem Ding, das alle drei berührt hatten und wie ein senkrecht stehender Hexenbesen
aussah, knurrte befriedigt Na bitte und drückte auf einen
Knopf. Bampf waren sie weg. Das letzte, was ich hörte,
war ein halblautes Gliep? Dafür eilte ein grüngekleideter
Herr mit gespanntem Bogen durch das Zelt, blieb stehen, schnupperte
hinter dem Geruch hinterher, rief kurz Marian? und entschwand
mit seiner Gefolgschaft. Einer verlor dabei einen Eichenzweig, dem
allerdings kein langes Leben beschieden war, denn er wurde von einer
Horde unvermittelt hereinstürmenden Bantus zertreten, die das
Feuer als Mittelpunkt ihres Tanzes nahmen. Ich begann bereits, ob
ihrer immer wieder erhobenen Speere um das Zelt zu fürchten, als
sie sich mit dem Ausdruck größten Entsetzens umblickten
und durch uns und das Zelt hindurch das Weite suchten. Der Grund
ihrer Aufregung ließ nicht lange auf sich warten - dabei war er
ganz harmlos, lediglich die Bildung hatte ihnen gefehlt, um eine der
klassischen Bühnenfiguren zu erkennen. Gespielt wurde sie
allerdings von einem entzückend grünen Jungdrachen im
Federkostüm, der ein Glockenspiel schwenkte, laut und
unmelodisch bringt mein Weibchen her sang und im
Vorübergehen Birgit ein paar Handküsse zuwarf. Ich hörte noch von
draußen ein vorwurfsvolles Poldi, du bringst aber auch alles
durcheinander..., als aus seiner Richtung eine bemerkenswert
aufgetakelte Schwarze in den Raum kam. Abrupt blieb sie stehen und
starrte uns an. Mein freundliches "Guten Abend" verwirrte
sie vollends. Ich habe es noch nie gekonnt! Ich will es gar nicht
können! Hört auf! Raus hier, alle! Damit war sie wieder
draußen. Gerade noch rechtzeitig, denn mit einem lauten aaaaiiiieeeeiiiii
flog ein knapp bekleideter, braungebrannter
Mann an einem Seil oder etwas ähnlichem durch das Zelt und
verschwand durch den Westeingang. Vom in dieser Richtung gelegenen
Teich kam ein lautes Klatschen und dann ebensolches Schimpfen, von
dem ich nur die beiden Worte Liane und Seife verstand.
Eine Weile geschah nichts, abgesehen davon, daß knapp neben dem Feuer
der Sand in Bewegung geriet und zu einem kleinen Trichter wurde, in den eines
der zahlreich umherhuschenden Meerschweinchen geriet. Mit einem schnellen
Schnappen verschwand es im Sand, dann wurde das Skelett wieder ausgespuckt und
ein zufriedenes Rülpsen ließ die Flammen auflodern.
Gelangweilt schnippte Arpad seinen Joint in den Trichter, worauf der
sich eiligst schloß. Neben dem Dreibein im Zentrum des Zeltes
erschienen unvermittelt zwei futuristisch gekleidete Herren.
Während der mit den langen, spitzen Ohren nur faszinierend murmelte,
sprach der andere in ein kleines Kästchen: beam uns wieder
rauf Scotti! Die Gestalten der beiden verschwammen, wurden
durchsichtig und waren schließlich gänzlich verschwunden.
"Kriegen wir jetzt endlich Ruhe hier oder was? So kommen wir ja nie zu Ende!" Lina war nun
wirklich empört. Nach kurzem Blickkontakt traten die drei Frauen
jetzt zusammen in die Mitte des Kreises.
"Ihr Geister des Westens, wir rufen euch! Ihr Geister des Wassers, wir bitten euch! Kommt und teilt
mit uns die Freuden des Festes der Ernte!"
Damit traten sie wieder auseinander, gerade noch rechtzeitig, denn vom Süden
her fegte eine Gruppe Indianer durch das Zelt, wobei ihnen die kleinen Pferde zugute
kamen. Knapp hinter ihnen folgte eine Schwadron Kavallerie und ließ
das Angriffs-Signal mehrfach durch das Zelt tönen. Danach
erschien aus dem Osten eine Gruppe Frauen im Stil der 80 Jahre des
letzten Jahrhunderts, die laut Wohlauf, jetzt geht's nach Denver
sangen und ebenfalls nach Norden abbogen. Auf die Minenarbeiter mit
Schaufeln und dem whiskeytrinkenden Seher brauchte ich auch nicht
allzu lange zu warten, denn die Gruppe der Kreuzritter, die sich in
der Himmelsrichtung vertan hatte und nach Westen zog, brauchte nicht
lange, bis ein vernichtender Blick aus Miras Augen sie verscheut
hatte. Schließlich fanden wir einen Moment, da das Zelt nicht
frequentiert wurde, und nutzten die Gelegenheit, um den Kreis zu
schließen. Machtvoll durchströmte uns die Energie,
letztlich doch zufrieden ließen wir den Kraftkegel
davonfliegen.
"Der Kreis ist geschlossen und läßt alles Böse draußen.
Kommt und feiert das Fest der Ernte."
Damit löste sich der wohlgeordnete Kreis in Grüppchen auf, die zusammen
diskutierten, aßen und tranken. Daß derweil das Feuer von einem alten
Mann mit weißem Bart benutzt wurde, um seinen Kessel anzuheizen, störte
schon niemanden mehr. Nur das größere Rudel von Sandmerkern hielten wir
mittels einiger Feuer im Schach. Was hätten wir denn auch tun sollen? Über
dem Altar leuchtete in Neongelb die Schrift Wir entschuldigen uns für die
Unannehmlichkeiten. Ich war kurz versucht, hinzuzufügen: und vielen Dank
für den Fisch, ließ es dann aber doch sein.
Daß allerdings der Polizeibericht, der am nächsten Tag verfertigt wurde,
erwähnt, man habe im Zelt eine Gruppe Menschen angetroffen, die im Kreise
getanzt und Allways look on the bright side of life gesungen
hätten, ist mir heute noch unerklärlich. Denn was, bitte
schön, haben Polizisten mit Geist zu tun? Nichts und wieder nichts.
Geschrieben 1995 für die HZS