Prosa: Laudatio

Ich lehnte mich gemütlich zurück und betrachtete die Gesichter der mich umgebenden Leute. Sie waren, wie ich, festlich gekleidet und schauten mit teilweise nur mäßigem Interesse zum Podium hinauf; dort war Prof. Dr. Dr. Klein-Schneider gerade mit der Laudatio beschäftigt. Peinlicherweise galt die Laudatio mir, und deshalb saß ich hier. Probeweise versuchte ich, seinen Ausführungen zu folgen.

Grau der Bildschirm
Stumm das Telefon

Diese Gedichtzeilen waren nun wirklich hinlänglich bekannt. Niemand, der in der Welt der Literatur etwas auf sich hielt, gestattete sich, sie nicht zu kennen, denn das hätte ihn unweigerlich zu einem Ignoranten gestempelt. Durch die zahlreichen Buchbesprechungen und Berichte waren auch Nichtliteraten damit in Kontakt gekommen.
"... zeigt die tiefe Desillusion des der Technik ausgelieferten Menschen. Mit geringsten Stilmitteln spannt unser Autor eine Brücke vom subjektiven Empfinden zur allgemeinen Befindlichkeit. Gerade diese Durchgängigkeit ist es, die ..."
Ich versuchte, mein Kaugummi unauffällig in die linke Backe zu schieben, was nur mangelhaft gelang; mein Nachbar zur Linken, Repräsentant des Schriftstellerclubs Penner, sah mich strafend an.
"Sie langweilen sich, Ruadh?"
Mit entschlossenem Schlucken verschwand das Kaugummi im Magen. Bloß der Heilerin nix davon sagen ...

"Es geht, Herr Kritteler. Es ist nur so, ich kenne meine Werke ziemlich gut, und zweckdienlicherweise habe ich die eigene Interpretation ja schon selber geschrieben. Aber das wissen Sie ja selber."
Kritteler rückte an der randlosen Nobbi-Brille.
"Schon, schon. Aber bei der Gelegenheit müßten selbst Sie doch noch ein gewisses - sagen wir mal, Prickeln, fühlen. Es kommt nicht alle Tage vor, daß man den Preis der Buchhändler bekommt."

"schauernd schaben
und sirren leise
die Quanten der
InfoMagie."

Klein-Schneider hatte ein weiteres Gedicht als Beleg meiner Genialität hinzugezogen. Ich erinnerte mich deutlich, wie ich es geschrieben hatte. Etwa fünf Jahre mußte das jetzt her sein. Was war noch mit Kritteler? Ach ja.
"Ach, wissen Sie, ich würde jetzt viel lieber irgendwo im Wald um ein Grillfeuer herumstehen, Liza im Arm und ein Methorn in der Hand. Wär' sicherlich irgendwie lustiger als hier steif herumzusitzen. Ich hab' mich immer schon gefragt, warum man solche Verleihungen nicht vereinfacht: Postpaket als Wertsache, und den Rest über Online-Zeitungen oder so. Würde sicherlich viel Zeit und Geld sparen."
"Das klingt, als seien Sie nicht sonderlich erbaut, Ruadh. Aber Sie hätten den Preis ja gar nicht annehmen müssen?"
Vor einer Antwort nickte ich wohlwollend in Richtung Podium, denn Prof. Dr. Dr. Klein-Schneider hatte eine rhetorische Frage in seine Laudatio eingeschoben, von der ich hoffte, sie auf diese Weise angemessen zu beantworten. Sein Redeschwall ging weiter. Ich hatte seine Fähigkeit, mit sonorer Stimme und sorgsam ausgewählten Sprechpausen, Betonungen und Lagenwechseln auch Belanglosigkeiten jene erhabene Bedeutung angedeihen zu lassen, immer schon bewundert.

"Hab' ich ja versucht."
Kritteler schaute entgeistert.
"Ja, doch. Aber was glauben Sie, was eine Gesellschaft macht, die den Heroen der Lyrik ehren will, wenn der nicht will? Sie ignoriert seinen Willen einfach."
"Ja, wie denn?" Mir war nicht ganz klar, was er damit meinte. Um Ersatz für das Kaugummi zu suchen, wollte ich in der Hosentasche wühlen, fand im Kilt allerdings etwas ganz anderes. Vorsichtshalber ließ ich die Hand erst mal dort.
"Sehen Sie, die haben einen Beschluß gefaßt. Und bevor sie mich davon unterrichteten, haben sie das groß in die Medien gebracht. Mit Lebenslauf, wohlwollenden Kritikermeinungen, Meinungsumfragen, Werksynopsen und anderem. Glauben Sie etwa, gegen die öffentliche Meinung könne ein einsamer Lyriker angehen?"
"Also, Ruadh, erstens sind sie nicht einsam, und zweitens ist jeder Lyriker von ihrem Format durchaus in der Lage, die öffentliche ..."
Frau Susanne Selehic-Nüßlein, Vertreterin des Magistrats und, wie ihr Parfum unzweideutig mitteilte, zu meiner Rechten plaziert, räusperte sich dezent und unterbrach Kritteler. Sie beugte sich zu ihm herüber, was mir einen tieferen Einblick in ihren Ausschnitt ermöglichte. Für einen Moment schweiften meine Gedanken zu Per Anhalter durch die Galaxis, von ... wie hieß er noch?
"Kritteler, nehmen Sie sich zusammen! Sie können hier doch nicht herumbrüllen! Im Namen des Magistrats, stören Sie die Versammlung nicht!"
Kritteler errötete, murmelte etwas unverständliches, verschränkte die Arme demonstrativ vor der Brust und starrte gen Rednerpult. Dort tauchte Prof. Dr. Dr. Klein-Schneider gerade in die Abgründe der tiefenpsychologischen Deutungen meiner Sonette. Offensichtlich machte mein Babelfisch gerade Mittagspause, denn ich verstand absolut nichts. Die Parfümwolke verzog sich samt Trägerin zur Seite, allerdings nicht vollständig auf den angestammten Platz. Frau Selehic-Nüßlein, Frauen- und Kulturbeauftragte der Stadt und ob ihres Faibles für Opern "Susanna" genannt, lächelte mich bekannt falsch an. Was ich befürchtet hatte, trat ein: sie übernahm die Konversation. Vorsichtig bugsierte ich meine Hand aus dem Kilt.
"Ein Langweiler, nicht?"
"Klein-Schneider?"
"Aber nein. Kritteler. Und so unbeherrscht!"
"Naja." Ich hoffte, er hörte nicht zu. Außerdem wandte ich meinen Kopf von ihm ab. Körbchen B?
"Eine schöne Laudatio, nicht?"
Das schien ihr Lieblingswort zu sein.
"Keine Ahnung", antwortete ich wahrheitsgemäß. "Ich kriege nicht viel mit. Immer diese Nebengespräche, sie wissen schon, nicht?"
Sie klimperte kokett mit den Wimpern.
"Aber zu Recht. Ich bewundere Ihre Gedichte. Wie schaffen Sie es bloß, immer wieder solche Meisterwerke zu schaffen?"

"Nicht traue dem tumben Tape
den Bytes verbiete die Bahn.
Probe den Preis der Programme,
der Winchester wirke den Wahn."

Ich grinste innerlich. Stabreime hatten immer so etwas archaisches an sich. Prompt ging die Laudatio auch darauf ein, griff uralte Reimtechniken auf, transformierte sie ins Hier und Jetzt. Wieder staunte ich über den Inhalt meiner Gedichte.
"Ach, wissen Sie, das ist ganz einfach. Ich brauche dazu eigentlich nur Ruhe, Papier, Stift und ..."
"Sie schreiben noch nicht per PC? Sie sind ja ein dichtender Anachronismus! Herrlich, nicht?"
Ich fixierte Susanna mit dem rechten Auge. Etwas in mir schien mich aufzustacheln, gab mir einen bösen Gedanken ein. Wahrheit wird selten erkannt, kommt sie direkt daher. Also:
"PC? Ich heiße doch nicht PIEP. Der schmeißt wahrscheinlich ein paar Namen, Daten, Landschaften, Jahreszeiten in das Programm und heraus kommt ein Bestseller. Nein, werte Frau Selehic-Nüßlein, meine Gedichte entstehen in Handarbeit. Wie gesagt, ich brauche Ruhe, Papier, Stift und Würfel."
"Würfel?"
Kritteler hatte sich wieder in das Gespräch eingeklinkt.
"Würfel, genau."
"Würfel?" fragte nun auch Susanne, mit etwas angezogener Tonlage. Klein-Schneider verhedderte sich bei einem Zitat, nahm einen Schluck Fachinger und versuchte es nach allgemeinem Hüsteln aufs Neue.
"Würfel. Und einen Kasten mit kleinen Zetteln."
"Zetteln?" Krittelers Stimme wurde zunehmend zum Baß.
"Ja. Toll, nicht? Auf den Zetteln stehen Worte, auf der einen Seite, und Zahlen, auf der anderen Seite. Dann würfele ich und ziehe den Zettel mit der geworfenen Zahl; so kommt nach und nach das Gerüst zustande. Ein paar Füllworte eingefügt, und schon ist das Gedicht fertig."
Einen Moment lang schwiegen meine Gesprächspartner. Krittelers Stirn durchlief einen kompletten variskischen Gebirgsfaltungszyklus. Er holte tief Luft.
"Sie würfeln Ihre Gedichte?" Seine Lautstärke war abermals um drei dB gestiegen. Ob er schon beim Podium zu hören war?
"Genau. Wozu sollte ich Gehirnakrobatik betreiben, wenn es auch so geht? Außerdem merkt es sowie so keiner."
Selehic hatte kugelrunde Augen bekommen und schüttelte nur noch den Kopf.
"Das glaube ich Ihnen nicht, Ruadh. Das ist doch bloß einer Ihrer Scherze! Gedichte von dieser Qualität würfelt keiner zusammen, nicht?"
Ein Herr in der Bank hinter mir bat dringend um Ruhe, wurde allerdings sofort mit der unglaublichen Neuigkeit konfrontiert. Nach dreimaligem Nachfragen und etlicher Bestätigung meinerseits entspann sich eine Diskussion, zwischen ihm und seinem Nachbarn zu Linken, dem Kulturattaché einer befreundeten Nachbarnation. Seinem Naturell entsprechend, sprang der Attaché auf, wurde aber alsbald von seinem östlichen Kollegen auf den Sitz zurückgedrängt. Amüsiert beobachtete ich, wie Kritteler und Selehic-Nüßlein sich ein Blick- und Wortduell lieferten. Prof. Dr. Dr. Klein-Schneider hatte abermals den Faden verloren und blickte etwas ratlos ins Auditorium, dessen Aufmerksamkeit längst nicht mehr ihm galt. Die Hinterbänkler hatten inzwischen zwar mitbekommen, daß etwas vorgefallen war, aber die Nachricht an sich hatte sie noch nicht erreicht, und so streckten sie ihre Köpfe neugierig nach vorne. Die Diskussion war derweil in der fünften Sitzreihe angekommen und hatte an Lautstärke zugenommen; manch seltsamer Blick wurde zu mir herübergeworfen. Ich trocknete die Hand im Plaite ab und fand endlich das Ersatzgummi. Genüßlich kauend bemerkte ich, wie eine Saalordnerin zum Podium ging und Klein-Schneider einen Zettel hinschob.
Unglücklicherweise - oder glücklicherweise, wenn man Hinterbänkler war - vergaß er, das Mikrofon abzustellen, so daß sein Erstaunen über die Lautsprecher drang. Begreiflicherweise heizte das die Unterhaltungen nur noch an. Frau ..lein hatte inzwischen ihre Brille eingebüßt, und hinter mir bemerkte ich, wie ein kleines Schwarzes demonstrierte, daß es auch mäßiger Krafteinwirkung nicht gewachsen war. Irgend jemand hatte begonnen, den dicken Katalog der parallel stattfindenden Ausstellung über Bronzegüsse des 17. Jhd. als Argumentationshilfe zu gebrauchen, eine Anregung, die allenthalben gerne aufgegriffen wurde. Ich überreichte meinen Katalog, auf dem ich, um größer zu wirken, gesessen hatte, mit einer angedeuteten Verbeugung Susanna und stiegt zum Podium herauf. Dort hatten sich drei Herren im Cutaway eingefunden und diskutierten lauthals und wild gestikulierend mit Klein-Schneider. Worte wie unmöglich, Semantik, tiefe Deutung, Schwachsinn und ähnliche waren zu vernehmen. Da keiner ansprechbar war, nahm ich kommentarlos die Medaille samt Urkunde an mich und begab mich zur naheliegenden Bar. Ich sah noch, wie die anwesenden Fotoreporter sich ins Gewühl stürtzen, nicht, ohne vorher ein paar sensationelle Aufnahmen zu schießen. Den Leiter der komischen Oper sieht man nicht alle Tage mit aufgelöstem Haar und in Unterhosen ...

Der Barkeeper, der mich glücklicherweise nicht erkannte, schob mir auf meine Bitte eine Bloody Mary entgegen und fragte nach dem Tumult. Ich erklärte es ihm knapp.

"Wissen Sie," sagte er nachdenklich und wandte sich seinem Shaker zu, "manchmal glaube ich, die Welt will betrogen sein - nur sagen darf man es ihr nicht."
Genüßlich lehnte ich mich zurück und nahm einen Schluck. Dem war nichts hinzuzufügen.

(29.12.1995)