Prosa: Jul
Die Rezeption des Publikums (manchmal auch "Breite Masse" genannt,
obwohl es viele Schmale, Leichtgewichtige darunter gibt) ist schon
sehr seltsam: es glaubt beispielsweise, daß Schauspieler
unentwegt schauspielern, nimmt an, Politiker würden dauernd
regieren, hält Superstars für ebensolche und
Marsoppositionen für wenn schon nicht lebensbedrohend, so doch
zumindest für verfassungswidrig. Kein Wunder, daß die
Rezeption eines Julrituales recht einfach ist : saufen, feiern,
saufen.
Nun, wie die anderen Dinge auch ist die Auffassung eines Rituals weit weg jeder
Realität. Für die Verfechter der Multiversen-Theorie:
Unserer Normal-Realität. Auch wenn ich weiß, daß nur
solche Individuen (die wir ja alle sind) diesen Text lesen und
verstehen werden, die eh schon mal in einem Ritual waren, möchte
ich doch ein Zeichen setzen, meinen Pantoffel hochhalten und einmal
zeigen, wie ein Ritual WIRKLICH abläuft.
Fangen wir mit dem Wort an. Bekanntlich war es ja am Anfang. Es ist eigentlich
ein Unwort, eine Notlösung, ein aus Verlegenheit geborener
Begriff. Aber wer aus dem Heidenvolk würde wagen, es einen
Gottesdienst zu nennen? Neben der Assoziation zur allgemein als wenig
erstrebenswert angesehenen Form des Christlichen G. schreckt den
gemeinen Heiden das Wort "Dienst". Zudem würde es
endlose Diskussionen über die Frage erzeugen, welcher Gott nun
gemeint sei, ganz zu schweigen von der Fraktion derjenigen, die
bestimmt einen Schrägstrich darinnen sehen wollten. Weichen wir
also der dann enstehenden Heidenlärmin aus und begnügen uns
mit "Ritual".
Wer nimmt nun an diesem Ritual teil? Grundsätzlich nur Freiwillige. Kein
Mensch könnte einen Heiden zwingen, an einem Ritual
teilzunehmen. Er erntete bestenfalls schallendes Gelächter!
Drohungen der Art, ohne Teilnahme ginge die Verbindung zur Gottheit
verloren oder vielleicht auch nur die Welt unter, quittiert der
gebildete Heide (ein weißer Schimmel, es gibt keine
ungebildeten Heiden) mit der Bemerkung, er könne zu jeder Zeit
und an jedem Ort mit seinem Gott reden und täte es auch und
außerdem sei ein Untergang der Welt nicht so schlimm, da es
noch genug weitere gäbe, ja dieser Untergang sogar zwingend und
erstrebenswert sei. Um danach eine 5-Minuten-Räucherstäbchen-Andacht
einzulegen, quasi als Beweis des Kontaktes. Auch dezente Hinweise
darauf, daß seine Teilnahme zwingend erforderlich sei, weil
ohne ihn dieses oder jenes Element fehlen würde, kontert der
unwillige Heide mit dem mathematischen Hinweis auf die Ruadh'sche
Drei-Elemente-Theorie (Feuerwasser, Erde, Luft) und die
Wahrscheinlichkeit, daß mehr als drei Menschen teilnehmen
würden. Nicht einmal das Versprechen von Julgeschenken vermag
den verstockten Heiden zur Teilnahme bewegen, da er diese Tradition
mit Blick auf eine ähnliche, im Kreise einer monotheistischen,
aus dem Morgenland stammenden Religion geübte und zur
Konsumschlacht verkommene Tradition ablehnt. Kurz gesagt, an einem
Ritual nimmt nur teil, wer aus tiefster Überzeugung teilnehmen
will.
Und das sind immer noch genug. Zwar gibt es den Fionn'schen Satz, wonach die
maximale Größe einer heidnischen Gruppe gleich 1 sei, aber
dieser Satz gilt nur für per Satzung gebildete Gruppen. Spontane
Gruppenbildungen fallen nicht darunter, weil ihre Ganzwertszeit
höchstens 5 Tage beträgt und somit deutlich unter dem
Verfallsdatum für "normale" Gruppen von 366,5 Tagen
liegt. Spontane Gruppen sind sozusagen metastabil und zerfallen nach
dem Ritual spontan in die einzelnen Individuen, ohne andere
Spaltprodukte wie Zorn, Neid, Bitterkeit und Zweifel zu hinterlassen.
Daß es zwischenzeitlich zu ebenso spontanen Kleinstclustern von
exakt zwei Heiden kommt, tut hier ebensowenig etwas zur Sache wie die
Tatsache, daß diese Kleincluster manchmal spontane
Child-Prozesse starten.
Wie aber finden diese Freiwilligen zueinander? Es braucht sozusagen eine
Initialzündung, einen Katalysator, einen zündenden Funken.
Das ist meistens ein Heide, der nicht gerne allein feiert und
darüber hinaus willens ist, die Heidenarbeit der Organisation auf sich zu
nehmen. Er schreibt also rechtzeitig vor dem avisierten Termin andere
Heiden an, die er kennt und von denen er annimmt, daß sie die
Einladung annehmen werden. Ist die kritische Anzahl von 4 (s.o.)
erreicht, beginnt die Orga: Auswahl des Ortes, der Unterkunft,
Planung der Ess- und Trinkbestände, Sorge für Musik und
Poesie, Abchecken der Preise etc. Das ist für andere Treffen
genauso und wird hier nicht weiter verfolgt. Ergebnis ist nach
zahllosen Telefonaten, eMails und durchwachten Nächten eine
detaillierte Einladung, die den Freiwilligen zugeht. Diese lesen sie
durch, vermerken sich den Termin im PDA und freuen sich auf das Fest.
Das beginnt mit der Anreise. Da die Heiden bekanntlich über Deutschland rar
verstreut sind, sind die Anreisewege entsprechend so vielfältig
und lang wie die Autokennzeichen unterschiedlich. Deswegen dauert das
Fest auch wesentlich länger als das eigentliche Ritual:
Faustformel ist 2 Tage + x. Wobei x die Dauer des Rituals ist. Somit
ergeben sich 2 Übernachtungen, ein ganzer Tag und zwei herrliche
Nächte. Über das Beziehen des Quartiers und der Betten
braucht hier auch nicht gesprochen zu werden, da allgemein bekannt.
Nun, da alle Teilnehmer anwesend sind, macht sich ein ganz eigentümlicher Zug
der Gruppe bemerkbar: obschon alle zu dem einzigen Zweck, das Ritual
zu feiern, zusammengekommen sind, redet keiner darüber! Alles
Mögliche wird getan: Umarmt, erzählt, Gerüchte
ausgestreut, gekocht, gegessen, getrunken, geraucht, Musik gespielt,
Rezepte ausgetauscht, Anekdoten erzählt, Bekanntschaften
erneuert, Unbekannte vorgestellt ("Was? Du bist wirklich der
Bruder von ... ?"). Man geht spazieren, ob lauter Kinder
gelegentlich in die Luft, bekannte Filme durch, neue Projekte an, von
kühnen Theorien aus, zum Rauchen auf die Terrasse und irgendwann
ins Bett. Kein Wort ist über das Ritual gefallen ...
Das setzt sich am zweiten Tag fort. Je nach Konstitution erscheinen die
Freiwilligen zwischen Acht Uhr morgens und Zwei Uhr mittags zum
Frühstück. Die Betätigung von gestern wird auf
höherem Niveau fortgesetzt, wobei sich immer wieder zeigt, warum das Niveau
Niveau heißt: es ist nie, wo wir sind ... Oh, ich werde
persönlich. Mit fortschreitender Zeit jedoch drängt das
eigentliche Thema in den Vordergrund, und spontan (sic!) bilden
sich Gruppen von Freiwilligen (sic!), die beginnen, den Ritualplatz
zu säubern, die Fackeln aufzustellen, das Holz zu spalten und es
vor der Hütte zu haben, Misteln, Met und Musik vorzubereiten und
sorgenvoll in den sich verdunkelnden Himmel zu blicken. Kaum ist das
geschehen, beginnt das Völkchen sich von bisher (mit mindestens
einer Ausnahme) völlig normal in Jeans und Schlabberpulli
gekleideten Leuten in Gewandete zu verwandeln. In kaum zwei Stunden
ist das Werk getan, alle sind festlich gekleidet und warten nur noch
darauf, daß das Ritual beginnt. Was meistens noch zwei weitere
Stunden dauert, weil garantiert irgend ein wichtiges Detail noch
geregelt werden muß. Mit etwas gutem Willen (der immer
vorhanden ist) und etwas mehr Glück (auf daß man sich
verläßt) beginnt das Ritual also eine halbe Stunde,
nachdem es zu Ende sein sollte.
Hier nun muß mit dem Erreichen des eigentlichen Themas auch der Sprachduktus sich
ändern. So "verrückt" das ganze Drumherum sein
mag, so individualistisch die Teilnehmer, so locker die Sprüche -
wenn es wirklich beginnt, das Ritual, wenn es wirklich zur
Zwiesprache mit den Gottheiten kommt, ist jeder ruhig, ernst und
gespannt. Ich habe es schon so oft erlebt und weiß immer noch
nicht, was genau es ausmacht: ab dem Zeitpunkt, da die Teilnehmer in
den Kreis gebeten werden, fällt alles Alberne, alle Flapsigkeit,
alles Geschäkere, alles "es ist uns ja gar nicht so
wichtig" von uns ab. Und wenn wir auch wissen, wie es abläuft,
dieses Ritual, weil wir es ja vorher besprochen und teilweise
geübt haben: wenn das Licht ausgeht, wenn Gott und Göttin gerufen
werden und erscheinen, wenn trotz Kälte, Regen und Sturm aus
einem winzigen Funken ein mächtiges Feuer wird, wenn Methorn und
geweihte Kerzen herumgehen, wenn Harfe und Bodhran mehr sind als nur
Instrumente, wenn alles, was im vergangen Jahr geschah, noch mal an
mir vorüberzieht, wenn die Stimmen von Priester und Priesterin
klar das Rauschen der Bäume übertönen, wenn ganz klar
ist, daß diese kürzeste Nacht nun bald vorbei ist –
dann sind alle für diese Zeitspanne eine Glaubensgemeinschaft.
So unterschiedlich die Ansätze, so verschieden die Götter,
für diese Zeit, die wir im Kreis stehen, sind wir zusammen mit
unseren Göttern eins. Dafür bin ich immer wieder dankbar.
"Ich weiß nicht, wie – es ist ein Wunder!" (Shakespeare in Love).
Daß nach dem Ritual ausgiebig gefeiert wird, daß das stundenlang
bereitete Essen in Nullkommanichts verdrückt wird, daß
Julgeschenke überreicht und bisweilen unter Freudentränen
angenommen werden, daß noch stundenlang musiziert, deklamiert,
erzählt und geplant wird (das nächste Ritual, versteht
sich), daß viele mit der Gewandung auch die steife Würde
ablegen – das ist dann wieder völlig normal.
Genauso normal wie der Morgen danach, der aus Arbeit, Aufräumen und
Abschied besteht. Aber das ist von jedem anderen Treffen auch
bekannt, eine ganz andere Geschichte und soll ein andermal erzählt
werden. Und daß der eine oder die andere sich fragt, ob die
Kopfschmerzen nun vom herabgefallenen Ast eines Baumes oder vom
übermäßigen Genuß geistiger Getränke
herrührt, ist auch normal.
Und wer nach dieser Erklärung immer noch meint, ein Ritual sei saufen,
feiern, saufen, dem ist nicht mehr zu helfen.
Fionn Ruadh, 21.12.2003