Prosa: Die zwei Dichter

Prosa: Die zwei Dichter

Vor hundert Jahren lebte in Irland ein Mann, der über die ganze Insel hinweg als Dichter bekannt war. Die Leute rühmten seine Geschichten und hörten ihm verzückt zu. Er konnte die Menschen zum Lachen bringen - oder zum Weinen. So zog er Jahr um Jahr im Land umher.

Eines Tages kam ein junger Mann zu ihm und sprach:
"Meister, ich fühle die Gabe der Dichtkunst in mir. Es drängt mich, Geschichten zu erzählen, Gedichte zu machen. Ich möchte auch für die Leute da sein und sie zum Lachen bringen können. Bitte, unterweise mich in Deiner Kunst."

Der Dichter sprach: "Gut!", und nahm ihn als Schüler an. Drei Wochen zogen sie zusammen durch Irland, und der Alte erklärte dem Jungen manches. Da wurde der still und immer stiller, und nach den drei Wochen wandte er sich an seinen Meister.

"Höre, Meister, Du hast mir so viel erzählt und erklärt; in meinem Kopf summt es, meine Gedanken sind verwirrt und die Stimmen darin werden immer mehr. Es ist zuviel für mich. Bitte, laß mich alleine gehen!"

Der Dichter sprach abermals: "Gut!" und ließ den jungen Mann davon ziehen.

Weitere sechs Wochen gingen ins Land, da erschien der junge Mann wieder bei dem alten Dichter und bat abermals, als Schüler aufgenommen zu werden. "Seit ich von Dir fortgegangen bin, finde ich keine Ruhe mehr. Mir fehlen die Geschichten, die alten Sagen, die Gedichte. Das ist schlimmer, als die vielen Stimmen in meinem Kopf. Bitte, nimm mich erneut als Schüler an."

Der alte Mann nickte nur, und so zogen sie wieder gemeinsam durch das Land. An viele Höfe kamen sie, durch viele Ländereien, und oftmals war nur das Stroh einer einfachen Hütte ihr Lager. Über drei Jahre hin lernte der junge Mann alles, was er über die Dichtkunst wissen wollte. Nach dieser Zeit fand der alte Dichter, er habe seinem Schüler nichts mehr beizubringen. Da packte der seinen Beutel und zog alleine durch das Land, um seine Kunst auszuüben. Ab und zu hörte der Alte Nachrichten, der junge Mann habe eine Familie gegründet und sei in die Wicklows gezogen. Dann verstummten auch diese Geschichten.

Jahre später erschien in Bray am Fuße der Wicklows ein Mann, der sah so zerlumpt aus, daß die Kinder sich vor ihm fürchteten. Er fragte alle Leute nach dem Verbleib des berühmten Dichters, aber keiner konnte ihm Auskunft geben, bis ein alter Mann ihm sagte, der Dichter sei nach Norden gezogen, dach Donegal. So machte sich der ehemalige Schüler auf den Weg, und wenn auch der Weg beschwerlich war, kam er doch bald an und suchte und fand seinen alten Meister. Er freute sich, ihn zu sehen und lud ihn auf ein gutes Glas Bier ein.

"Wie ist es Dir in der Zwischenzeit ergangen?" fragte der alte Dichter.
"Oh, ich habe viele Menschen mit meiner Kunst erfreut, habe sie zum Lachen gebracht, ließ sie auch weinen, und wenn Streit aufkam, war er meist mit einem witzigen Gedicht geschlichtet."
"Warum siehst Du dann so zerlumpt aus?" wollte der alte Mann wissen. Das Gesicht seines Schülers verdüsterte sich.
"Die Dichtkunst hat mir alle Kraft abverlangt, die ich hatte. Ich habe meine Frau verlassen und meine zwei Kinder, denn all die täglichen Arbeiten ließen keine Gedichte mehr in mir wachsen."
Da stand der alte Dichter auf, bezahlte die Getränke, und bevor er zur Türe hinausging, sagte er dem nun nicht mehr so jungen Mann:
"Dann geh jetzt hin und gebrauche das, was Du bei mir gelernt hast, um Dich selber zum Lachen - und zum Weinen zu bringen."

Damit verließ er ihn, und die beiden sahen sich nie wieder. Seit jener Zeit aber, so erzählt man, gab es in Irland zwei berühmte Dichter.